Donnerstag, 26. Mai 2011

Christoph Egger schreibt über «Tree of Life» von Terrence Malick


Nach seinem Besuch eines «überragenden», ja «phänomenalen» Films spürte der Filmkritiker Christoph Egger ein grosses Kribbeln. Was hatte er da gesehen? Eine Offenbarung? Eine überragende Offenbarung? Zuerst einmal ging er auf Nummer sicher:

«Der 1943 geborene Amerikaner, der in Harvard Philosophie studierte und in Oxford eine Dissertation über Heidegger und Wittgenstein angeblich wegen Differenzen mit seinem Doktorvater Gilbert Ryle abbrach, danach am MIT unterrichtete und am AFI in Los Angeles Filmstudien betrieb, verweigert sich bloss jenem schrillen Medienzirkus, dessen Klimax alljährlich Oscar-Verleihung und die grossen Filmfestivals heissen.»

Haha, diese dummen Oscar-Verleihungen. Das ging schon dufte los! Vielleicht waren das ein bisschen viel Abkürzungen und Namen in einem Absatz. Aber sicher wussten alle, was das AFI in Los Angeles ist. Ausserdem hatte er erstmals Heidegger und Wittgenstein in einem Satz erwähnt! Das schaffte nicht einmal Martin Meyer.


«Doch soll Malick dieses Jahr durchaus in Cannes gewesen sein; peinlich auf das «Recht am eigenen Bild» bedacht, wird er heute nicht mehr erkannt.»

Das konnte durchaus alles sein; peinlich auf den Satzbau bedacht, wird Egger daran erkannt. Bilderverbot – das gilt sowieso für zwei Menschen: Terrence Malick und Gott! Aber zu Gott kam er ja erst. Christoph Egger holte erst einmal Luft.


«Nur fünf Filme (als Regisseur) in knapp vierzig Jahren, dabei vier von jenem Format, das Filmgeschichte schreibt, das ist der Stoff, der zu Mythenbildung animiert.»
Mythos ist ein Stoff, der aus Geschichte ensteht, die aus Format gemacht ist. Kurz, aber richtig.

«Zusammen mit Emmanuel Lubezkis in praktisch unaufhörlicher Bewegung begriffener, innert Sekunden von unmittelbarster Nähe zu radikaler Distanz wechselnder kreisender, schwebender, fliegender Kamera wird ein furioser Wirbel erzeugt, ein Sog, ein Vortex, der dem Betrachter zwar Hören und Sehen vergehen lässt, ihn aber nicht erschöpft, wie das der gängige Experimentalfilm so an sich hat, sondern vielmehr seinerseits erhebt in kontrolliertem Taumel und atemloser Ruhe.»

Haha, der dumme gängige Experimentalfilm. Gemeinsam mit atemberaubend vielen schönen, sich in rascher dringlicher Abfolge ergiessenden und überhaupt vollends aparten Adjektiven erschuf Christoph Egger eine Kritik, die dem Betrachter zwar Hören und Sehen vergehen lässt, ihn aber überhaupt nicht erschöpft. Film und Text – Mimesis!


«Nun machen diese Exaltationen nicht nur bloss einen Teil des Ganzen aus, das in drei, vier den Fluss der Erzählung unterbrechenden «Lichterscheinungen» Sequenzen der Stille und der «Schöpfung» des Universums dagegensetzt; sie werden ihrerseits gebändigt durch eine reiche musikalische Textur und durch die inneren Monologe, die Selbstergründungen und quälenden Selbstbefragungen der aus dem Off agierenden Hauptfigur.»


Die Frage, wer in «Tree of Life» eigentlich die Hauptfigur ist – geschenkt. Sie agiert jedenfalls aus dem Off und bändigt vielerlei Dinge, die das Ganze – Moment… die die Exaltationen… jetzt befand sich Christoph Egger schon in einem kontrollierten Taumel! Also, es war so: Das Ganze (der Film) setzt «Lichterscheinungen», die den Fluss der Erzählung unterbrechen… Himmelarsch! Nun hatte er seinen eigenen Fluss unterbrochen. Also: Die Exaltationen waren Teil des Ganzen. Ihnen gegenüber stehen drei oder vielleicht sogar vier «Lichterscheinungen» in der Form von Sequenzen der Stille und der «Schöpfung» des Universums. Hier stellte sich bei Christoph Egger kurz die Frage, ob ein Ganzes einem Teil einen anderen Teil entgegensetzen kann, oder ob nicht vielmehr zwei entgegengesetzte Teile ein Ganzes ergeben und man einem Ganzen lediglich ein anderes Ganzes entgegensetzen kann. Es kam aber letztlich auch nicht so drauf an. Struktur, Differenz; die Dialektik ist ein Sandwich! Ausserdem hatte er, um nicht negativ aufzufallen, Schöpfung in Anführungszeichen gesetzt. Meinte er es ironisch? Nein! Die Schöpfung ist nur wie eine Lichterscheinung: Die Kraft des Kinos lässt einen daran glauben, aber wer glaubt es sonst? Eben! Er war jetzt allerdings erst beim Semikolon. Semikolon – was für ein hübsches Wort. Christoph Egger sprach es laut aus; sang es sogar ein wenig.

«Die intensive Rollengestaltung Brad Pitts (der auch als Koproduzent fungierte) zeigt diesen glaubensfesten, Orgel und Klavier spielenden Vater von drei Söhnen als gestrenge, unbedingten Gehorsam einfordernde Instanz, aber ebenso als ein Gegenüber, das sich seinen Kindern stellt und sie zum Bestehen des Lebens anzuleiten versucht.»

Oder sollte man die Klammer einschieben? «Die intensive Rollengestaltung des auch als Koproduzent fungierenden Brad Pitts...» Eine Parenthese gespart, an die Bäume gedacht!


«Eine geradezu schwerelose Erscheinung von wunderbarer Heiterkeit und zarter Tragik ist in Jessica Chastains Interpretation die Figur der von den drei Buben heiss geliebten Mutter.»

Oder drei, vier Buben.

«Magistral, wie der Film die Entwicklung der Kinder, in Funktion natürlich auch der erinnernden Rückschau des erwachsenen Ältesten, sich in rasenden Schritten vollziehen lässt, um dann wieder in Momenten gleichsam zeitloser, zeitentrückter Dauer zu verharren.»

Nun verharrte Christoph Egger erstmal selbst in atemloser Ruhe und sinnierte über den Unterschied von zeitlos und zeitentrückt. Es dauerte aber zu lange.



«Alle Filme Terrence Malicks sind eine Auseinandersetzung mit der «Natur», die sowohl diejenige des Menschen ist wie jenes ihm entgegengesetzte Andere von fremder, dunkel faszinierender Schönheit.»

Jargon der Enteigentlichung! Erst «Schöpfung», dann «Natur». Einfach Natur gibts gar nicht mehr! Beziehungsweise gibt es sie zweifach: Als Kultur und als Natur. Ansonsten hatte er jetzt dem einen wieder ein anderes entgegengesetzt, was unter Umständen ein Ganzes ergeben könnte, welches wiederum einen Teil dem anderen dagegensetzen könnte, wenn es denn wollte.

«Nicht alles will hier gleichermassen einleuchten.»

Nein.

«Bei den «kosmischen Ereignissen» wird man unwillkürlich an Kubrick denken – und zugleich innewerden, wie sehr Kubrick der «Mechaniker» war, der Tüftler, dem die Natur völlig gleichgültig war, während Malick der «Organiker» ist.»

Im Land der Gänsefüsschen. Malick ist ein «Organiker»; wobei: Vielleicht auch nicht. Er ist jedenfalls sosehr ein «Organiker» wie Kubrick ein «Mechaniker» ist, insofern die beiden wechselseitig auch das jeweils Andere sind, weil vorderhand nichts festgelegt ist. Wenn Kubrick allerdings die Natur gleichgültig war, warum war er dann nur ein «Tüftler»? «Schwierig», antwortete Christoph Egger in Gedanken. Eine noch einmal andere Frage stellte sich bezüglich der «kosmischen Ereignisse», die möglicherweise konkreter wären, würde man sie nicht anführen, wobei dann unklar wäre, was kosmische Ereignisse überhaupt sind. Grosse Fragen.

«Der Gestus der überscharfen Wahrnehmung der Phänomene der belebten Natur und des Sterbens, der die drei ersten Filme so einzigartig machte, scheint seither etwas zurückzutreten zugunsten einer «pantheistischeren» Sicht.»

Nun war er vollends im Vortex gelandet. Malick ist ein Filmemacher, der Phänomene derart überscharf wahrnimmt, dass man sie selbst nur noch eher unscharf als Phänomene der belebten Natur und des Sterbens beschreiben kann. Was soll man auch machen! Und sonst? Gestus, tritt zurück! – und mach Platz für eine «pantheistischere» Sicht. Bei Malick kann man es ja wirklich nie genau sagen. Entweder ist Gott um einen herum, beziehungsweise noch mehr als zuvor. Oder er ist «um einen herum». Oder er ist völlig hinüber! Aber was sollte das denn bedeuten?

«Den theologischen Diskurs geben die Verse Hiob 38, 4–7 vor, die dem Film als Motto vorangestellt sind und den Menschen daran erinnern, dass er bei der Schöpfung noch nirgends war (nicht zu reden davon, dass er deren «Krone» sei).»

Endlich kam in einem Film mal Hiob 38, 4–7 vor, denn die Bibelstelle kannte Christoph Egger auswendig. Sie ging so: «Wo warst Du, da ich den Text schrieb? Sage an, bist Du so klug!» Christoph Egger kicherte ein wenig vor sich hin. Der Leser kann nichts wissen! Niemand war Zeuge der «Schöpfung» dieses Textes, und sagte er doch etwas, wäre es nur dummes Zeug! Er müsste wissen, wie und zu welchem Ende der Text erschaffen wurde. Vor allem zu welchem Ende! Denn der Mensch war noch nirgends, als dieser Text entstand. Und wer das Gegenteil behauptet, setzt dem Blödsinn die «Krone» auf.



http://www.nzz.ch/nachrichten/kultur/film/schoepfungsakt_und_hader_mit_gott_1.10703769.html