Donnerstag, 26. Mai 2011

Christoph Egger schreibt über «Tree of Life» von Terrence Malick


Nach seinem Besuch eines «überragenden», ja «phänomenalen» Films spürte der Filmkritiker Christoph Egger ein grosses Kribbeln. Was hatte er da gesehen? Eine Offenbarung? Eine überragende Offenbarung? Zuerst einmal ging er auf Nummer sicher:

«Der 1943 geborene Amerikaner, der in Harvard Philosophie studierte und in Oxford eine Dissertation über Heidegger und Wittgenstein angeblich wegen Differenzen mit seinem Doktorvater Gilbert Ryle abbrach, danach am MIT unterrichtete und am AFI in Los Angeles Filmstudien betrieb, verweigert sich bloss jenem schrillen Medienzirkus, dessen Klimax alljährlich Oscar-Verleihung und die grossen Filmfestivals heissen.»

Haha, diese dummen Oscar-Verleihungen. Das ging schon dufte los! Vielleicht waren das ein bisschen viel Abkürzungen und Namen in einem Absatz. Aber sicher wussten alle, was das AFI in Los Angeles ist. Ausserdem hatte er erstmals Heidegger und Wittgenstein in einem Satz erwähnt! Das schaffte nicht einmal Martin Meyer.


«Doch soll Malick dieses Jahr durchaus in Cannes gewesen sein; peinlich auf das «Recht am eigenen Bild» bedacht, wird er heute nicht mehr erkannt.»

Das konnte durchaus alles sein; peinlich auf den Satzbau bedacht, wird Egger daran erkannt. Bilderverbot – das gilt sowieso für zwei Menschen: Terrence Malick und Gott! Aber zu Gott kam er ja erst. Christoph Egger holte erst einmal Luft.


«Nur fünf Filme (als Regisseur) in knapp vierzig Jahren, dabei vier von jenem Format, das Filmgeschichte schreibt, das ist der Stoff, der zu Mythenbildung animiert.»
Mythos ist ein Stoff, der aus Geschichte ensteht, die aus Format gemacht ist. Kurz, aber richtig.

«Zusammen mit Emmanuel Lubezkis in praktisch unaufhörlicher Bewegung begriffener, innert Sekunden von unmittelbarster Nähe zu radikaler Distanz wechselnder kreisender, schwebender, fliegender Kamera wird ein furioser Wirbel erzeugt, ein Sog, ein Vortex, der dem Betrachter zwar Hören und Sehen vergehen lässt, ihn aber nicht erschöpft, wie das der gängige Experimentalfilm so an sich hat, sondern vielmehr seinerseits erhebt in kontrolliertem Taumel und atemloser Ruhe.»

Haha, der dumme gängige Experimentalfilm. Gemeinsam mit atemberaubend vielen schönen, sich in rascher dringlicher Abfolge ergiessenden und überhaupt vollends aparten Adjektiven erschuf Christoph Egger eine Kritik, die dem Betrachter zwar Hören und Sehen vergehen lässt, ihn aber überhaupt nicht erschöpft. Film und Text – Mimesis!


«Nun machen diese Exaltationen nicht nur bloss einen Teil des Ganzen aus, das in drei, vier den Fluss der Erzählung unterbrechenden «Lichterscheinungen» Sequenzen der Stille und der «Schöpfung» des Universums dagegensetzt; sie werden ihrerseits gebändigt durch eine reiche musikalische Textur und durch die inneren Monologe, die Selbstergründungen und quälenden Selbstbefragungen der aus dem Off agierenden Hauptfigur.»


Die Frage, wer in «Tree of Life» eigentlich die Hauptfigur ist – geschenkt. Sie agiert jedenfalls aus dem Off und bändigt vielerlei Dinge, die das Ganze – Moment… die die Exaltationen… jetzt befand sich Christoph Egger schon in einem kontrollierten Taumel! Also, es war so: Das Ganze (der Film) setzt «Lichterscheinungen», die den Fluss der Erzählung unterbrechen… Himmelarsch! Nun hatte er seinen eigenen Fluss unterbrochen. Also: Die Exaltationen waren Teil des Ganzen. Ihnen gegenüber stehen drei oder vielleicht sogar vier «Lichterscheinungen» in der Form von Sequenzen der Stille und der «Schöpfung» des Universums. Hier stellte sich bei Christoph Egger kurz die Frage, ob ein Ganzes einem Teil einen anderen Teil entgegensetzen kann, oder ob nicht vielmehr zwei entgegengesetzte Teile ein Ganzes ergeben und man einem Ganzen lediglich ein anderes Ganzes entgegensetzen kann. Es kam aber letztlich auch nicht so drauf an. Struktur, Differenz; die Dialektik ist ein Sandwich! Ausserdem hatte er, um nicht negativ aufzufallen, Schöpfung in Anführungszeichen gesetzt. Meinte er es ironisch? Nein! Die Schöpfung ist nur wie eine Lichterscheinung: Die Kraft des Kinos lässt einen daran glauben, aber wer glaubt es sonst? Eben! Er war jetzt allerdings erst beim Semikolon. Semikolon – was für ein hübsches Wort. Christoph Egger sprach es laut aus; sang es sogar ein wenig.

«Die intensive Rollengestaltung Brad Pitts (der auch als Koproduzent fungierte) zeigt diesen glaubensfesten, Orgel und Klavier spielenden Vater von drei Söhnen als gestrenge, unbedingten Gehorsam einfordernde Instanz, aber ebenso als ein Gegenüber, das sich seinen Kindern stellt und sie zum Bestehen des Lebens anzuleiten versucht.»

Oder sollte man die Klammer einschieben? «Die intensive Rollengestaltung des auch als Koproduzent fungierenden Brad Pitts...» Eine Parenthese gespart, an die Bäume gedacht!


«Eine geradezu schwerelose Erscheinung von wunderbarer Heiterkeit und zarter Tragik ist in Jessica Chastains Interpretation die Figur der von den drei Buben heiss geliebten Mutter.»

Oder drei, vier Buben.

«Magistral, wie der Film die Entwicklung der Kinder, in Funktion natürlich auch der erinnernden Rückschau des erwachsenen Ältesten, sich in rasenden Schritten vollziehen lässt, um dann wieder in Momenten gleichsam zeitloser, zeitentrückter Dauer zu verharren.»

Nun verharrte Christoph Egger erstmal selbst in atemloser Ruhe und sinnierte über den Unterschied von zeitlos und zeitentrückt. Es dauerte aber zu lange.



«Alle Filme Terrence Malicks sind eine Auseinandersetzung mit der «Natur», die sowohl diejenige des Menschen ist wie jenes ihm entgegengesetzte Andere von fremder, dunkel faszinierender Schönheit.»

Jargon der Enteigentlichung! Erst «Schöpfung», dann «Natur». Einfach Natur gibts gar nicht mehr! Beziehungsweise gibt es sie zweifach: Als Kultur und als Natur. Ansonsten hatte er jetzt dem einen wieder ein anderes entgegengesetzt, was unter Umständen ein Ganzes ergeben könnte, welches wiederum einen Teil dem anderen dagegensetzen könnte, wenn es denn wollte.

«Nicht alles will hier gleichermassen einleuchten.»

Nein.

«Bei den «kosmischen Ereignissen» wird man unwillkürlich an Kubrick denken – und zugleich innewerden, wie sehr Kubrick der «Mechaniker» war, der Tüftler, dem die Natur völlig gleichgültig war, während Malick der «Organiker» ist.»

Im Land der Gänsefüsschen. Malick ist ein «Organiker»; wobei: Vielleicht auch nicht. Er ist jedenfalls sosehr ein «Organiker» wie Kubrick ein «Mechaniker» ist, insofern die beiden wechselseitig auch das jeweils Andere sind, weil vorderhand nichts festgelegt ist. Wenn Kubrick allerdings die Natur gleichgültig war, warum war er dann nur ein «Tüftler»? «Schwierig», antwortete Christoph Egger in Gedanken. Eine noch einmal andere Frage stellte sich bezüglich der «kosmischen Ereignisse», die möglicherweise konkreter wären, würde man sie nicht anführen, wobei dann unklar wäre, was kosmische Ereignisse überhaupt sind. Grosse Fragen.

«Der Gestus der überscharfen Wahrnehmung der Phänomene der belebten Natur und des Sterbens, der die drei ersten Filme so einzigartig machte, scheint seither etwas zurückzutreten zugunsten einer «pantheistischeren» Sicht.»

Nun war er vollends im Vortex gelandet. Malick ist ein Filmemacher, der Phänomene derart überscharf wahrnimmt, dass man sie selbst nur noch eher unscharf als Phänomene der belebten Natur und des Sterbens beschreiben kann. Was soll man auch machen! Und sonst? Gestus, tritt zurück! – und mach Platz für eine «pantheistischere» Sicht. Bei Malick kann man es ja wirklich nie genau sagen. Entweder ist Gott um einen herum, beziehungsweise noch mehr als zuvor. Oder er ist «um einen herum». Oder er ist völlig hinüber! Aber was sollte das denn bedeuten?

«Den theologischen Diskurs geben die Verse Hiob 38, 4–7 vor, die dem Film als Motto vorangestellt sind und den Menschen daran erinnern, dass er bei der Schöpfung noch nirgends war (nicht zu reden davon, dass er deren «Krone» sei).»

Endlich kam in einem Film mal Hiob 38, 4–7 vor, denn die Bibelstelle kannte Christoph Egger auswendig. Sie ging so: «Wo warst Du, da ich den Text schrieb? Sage an, bist Du so klug!» Christoph Egger kicherte ein wenig vor sich hin. Der Leser kann nichts wissen! Niemand war Zeuge der «Schöpfung» dieses Textes, und sagte er doch etwas, wäre es nur dummes Zeug! Er müsste wissen, wie und zu welchem Ende der Text erschaffen wurde. Vor allem zu welchem Ende! Denn der Mensch war noch nirgends, als dieser Text entstand. Und wer das Gegenteil behauptet, setzt dem Blödsinn die «Krone» auf.



http://www.nzz.ch/nachrichten/kultur/film/schoepfungsakt_und_hader_mit_gott_1.10703769.html

Montag, 21. Februar 2011

Martin Meyer schreibt über die Revolution in Ägypten

Martin Meyer war ungeduldig. Nun hatten schon Reihen von Experten ihr Wissen über den Aufstand in Ägypten ausgeschüttet, jetzt war doch einmal auch er dran. Schliesslich war er Chef des Feuilletons der NZZ! Und zur Revolution hatte sich einiges angestaut in seinem Hirn, das unbedingt raus musste. Genauso wie die Menschen in Ägypten auf den Tahrir-Platz!
«Studenten drängten sich mit Arbeitern, Ärzte und Juristen schlossen auf zur Beamtenschaft, junge Frauen demonstrierten neben alten Bauern, und sie alle, die dabei Leib und Leben riskierten, bildeten jene Kohärenz, die erst wirkungsvoll dem Regime von Mubarak den Garaus machte.»
Das ging schon mal gut los. Kohärenz war toll, aber auch Garaus. Später: 
«Das Subjekt der Revolution war die Revolution selber, als Summe des Volkswillens und als Kritik am Bestehenden.»
Martin Meyer putzte erstmal seine Brille. Hatte er jetzt tatsächlich gerade geschrieben, dass das Subjekt der Revolution die Revolution selber war? Ha! Aber stimmte es nicht? Kommt denn die Revolution nicht daher und sagt: Ich bin die Revolution? Bestimmt doch! Und zwar unabhängig davon, dass das Subjekt der Revolution freilich die Arbeiterklasse ist. DAS SUBJEKT DER REVOLUTION IST DIE REVOLUTION. Martin Meyer war stolz auf sich. Mit seiner Tautologie hatte er auf theoretischer Ebene gerade viele Regalmeter Geschichtsphilosophie erledigt. Soll ihm nur keiner den Satz anstreichen! Dem Chef des Feuilletons der NZZ!
«Die Geschichte wiederholt sich, und sie wiederholt sich nicht.»
 Das war nun einfach wahr und musste mal gesagt sein. Wenn sich die Geschichte wiederholt, kann man im Nachhinein sagen, dass sie sich wiederholt hat. Wiederholt sie sich dagegen nicht, lässt sich immerhin erkennen, dass sie sich im Gegensatz zu der Erwartung, Geschichte würde sich normalerweise wiederholen, eben nicht wiederholt hat. Martin Meyer schaute aus dem Fenster und wurde ein bisschen melancholisch ob all der Erkenntnis. 
«Die bisher aktuellen Lehren aus den Ereignissen in Kairo lauten: Erstens, indem die Ägypter scheinbar aus dem Nichts und ohne die Regie durch Anführer der Revolution zusammenkamen, konfigurierten sie sich zu einer Spontanmasse, deren Identität die individuellen Profile so effektiv überspielte, dass die Parole «Wir sind das Volk» ohne Einschränkung sowohl in der Innen- wie in der globalisierten Aussenwahrnehmung ihre Geltung beanspruchte. Die Nähe, die als Wir-Gefühl entstand, wurde dadurch politisch.» 
Jetzt kams ganz dicke. Es musste ja auch einmal einer drauf kommen, dass eine Revolution politisch wurde, und in diesem Fall wurde sie es durch eine Nähe, die als Wir-Gefühl entstand. Andere Revolutionen etwa entstanden aus einer Entfernung, die als Die-Da-Drüben-Gefühl wirklich wurden, indem etwa die einen sagten, mit denen dort drüben wollen wir nichts zu tun haben, und in deren Nähe wollen wir schon gar nicht sein. Martin Meyer lächelte glückselig. Es braucht eben für die Nähe vor Ort die Analyse aus der Ferne eines Redaktionsbüros!
«Diesem Aufstand lag zugleich eine Mobilisierung zugrunde, die ihre Energien aus Quellen zog, die keinem atavistischen Triebimpuls entsprachen, sondern ganz im Gegenteil einem reflektierten und planenden Bewusstsein sich verdankten.»
Jetzt wurde es schwieriger, musste Martin Meyer doch mit diesem Facebook sich auseinandersetzen, das offenbar ein Wir-Gefühl auslöste in einer Revolution, die von sich selber sagte: Ich mag mich! Aber das konnte er sich ja erst noch überlegen, wichtiger war zuerst noch, das Reflexivpronomen möglichst weit nach hinten zu legen. Soll ihm keiner sagen, er habe die Kritische Theorie nicht gelesen!
«Die Organisatoren – so ihr eigenes Bekenntnis – entdeckten sich dabei selbst»
Die Organisatoren entdecken sich selbst. Martin Meyer musste plötzlich laut lachen ob seiner Chuzpe. Richtig wäre natürlich, dass sie einander entdecken, doch wenn sie sich selbst entdeckten, werden sie sich ihrer wahrscheinlich sogar noch bewusst, und was will man mehr als ein Bewusstsein bei einer Revolution! Martin Meyer holte einen Kamillentee
«Facebook avancierte zur Metapher für die Delegation von Legitimität auf die Screens.»
Jetzt stellte sich zuallererst die Frage, ob es noch ein Substantiv mehr leiden könnte. Vielleicht Demokratisierung? Facebook avancierte zur Metapher für die Demokratisierung durch Delegation von Legitimität auf die Screens? Das hatte schon was für sich! Aber schon so delegierte Facebook die Legitimität auf die Screens, wo Facebook bereits herkam, und alles war auch noch eine Metapher! Die Schlange, die die Katze gefressen hat, die sich in den Schwanz gebissen hatte, vergiftete sich selber. Martin Meyer erhielt einen geistigen Handschlag von sich selber. 
«Doch in den Palästen von Libyen über Algerien und Bahrain bis nach Iran lauert die Furcht. Schon jetzt hat der Dominoeffekt auf leisen Sohlen zugeschlagen.»
Hihi, lachte Martin Meyer. Ein Dominoeffekt auf leisen Sohlen! Wie kam er nur immer auf solche Wendungen? Solches fiel eben dem Chef des Feuilletons der NZZ ein, und niemand anderem sonst!
«What Egypt did will be the form that will push the world.» Das war letztlich und in ehrwürdiger Tradition geschichtsphilosophisch gedacht, dass nichts und niemand dem Fortschritt entrinne. Hegels Diktum, dass die Masse mit der Französischen Revolution ein Bewusstsein eingesetzt bekommen habe, lieferte gleichsam die Vorlage. Derweil wuchert zugleich die Hypothek der politischen Theologie, wie sie der Islam beansprucht, in den Köpfen derer, die Demokratie noch lange nicht mit den Rechten des Individuums im freiheitlichen Rechtsstaat identifizieren. Überdies gilt für jede revolutionäre Volksbewegung, dass sie ihren politischen Ort erst da gefunden hat, wo Repräsentation zustande gekommen ist. Dem alten Europa eröffneten sich dafür zweihundert Jahre. Das Auf und Ab ist bekannt.»
Martin Meyer lehnte sich zurück. Das Auf und Ab war ja nun wirklich allzu gut bekannt, das musste er verschworen mit sich selbst zugestehen.  Wer es weiss, der wird es wissen, denn manchmal ging es auf und zuweilen auch wieder ab, aber auf und ab ging es immer. Es war ja schon fast so, dass sich die Geschichte wiederholt, solange sie sich nicht wiederholt. Ausserdem hatte er jetzt auch noch den Hegel drin. Und mit dem Hegel hatte er die Vernunft und den Fortschritt, und mit Fortschritt hatte er den Weg hin zum freiheitlichen Rechtsstaat, in dem es jedem erlaubt ist, drauflos zu denken, wie man will, und alles auch noch aufzuschreiben, solange nicht der Islam plötzlich zu wuchern anfängt und den ganzen schönen Fortschritt zerstört. Martin Meyer machte einen Purzelbaum rückwärts im Büro. Hoffentlich hatte das jetzt keiner gesehen. 

http://www.nzz.ch/nachrichten/kultur/aktuell/die_masse_bricht_die_macht_1.9598296.html

Samstag, 8. März 2008

Stefan Zweifel schreibt über Jonathan Littell

Stefan Zweifel freute sich. Da ging es wieder einmal um Scheisse, und mit Scheisse kannte er sich aus. Schon immer hatte ihn interessiert, wie Literatur Exkremente in Fluss bringt und so die Erwartungen des Lesers unterspült. De Sade hatte er bereist übersetzt, in Basel die Situationisten fertig gemacht. Stefan Zweifel interessierte sich dafür, dem analen Charakter auf die Spur zu kommen. Auf die Bremsspur, könnte man sagen. Was blieb da noch übrig? Es gab aktuell nur eines zu tun: Max Aue, der SS-Mann aus Jonathan Littells «Die Wohlgesinnten». 

Stefan Zweifel sass vor seinem Arbeitstisch. Plötzlich ärgerte er sich über sich selbst. Hatte er eben gerade den deutschen Titel des Buches gedacht? Natürlich musste es «Le Bienveillantes» heissen. Das Original geht vor. Übersetzt, das war für Stefan Zweifel wie nicht gelesen. Und gerade Jonathan Littell pflegte aktuell die schönste Sprache des exkremental-erotischen Exzesses. Das ging ja im ganzen Mediengesuhle völlig unter: Die Übersetzung! Wer wagt sich schon ans französische Original? Doch Stefan Zweifel! Die deutsche Version ist nämlich «überkorrekt», das verstimmte Stefan Zweifel. «Überkorrekt» war ein Wort, das für ihn alles Elend der Welt bestimmte. «Anal» war ein Wort, das ihn interessierte. 

Stefan Zweifel streichelte über den Einband der französischen Originalausgabe von «Les Bienveillantes». Er sinnierte. Den «Dreck»-Vorwurf musste er sich schon oftmals anhören. «Kitsch» heisst es ja immer, wenn etwas nicht intellektuell beglaubigt ist, vom Feuilleton nicht geadelt und von den als lesenswert ausgeflaggten Kritikerspiessern nicht affirmativ durchgewunken wurde. Das wusste Stefan Zweifel nur zu gut! Dabei ist doch dieser Vorwurf selbst Kitsch! Stefan Zweifel hatte eine Idee. Er hielt beim Streicheln inne und tippte folgenden Satz: «Auffällig oft ist bei den Kritikern von Kitsch und Dreck die Rede, wobei diese Kombination selbst schon Kitsch ist und an dunkle Zeiten erinnert.»

Da hatte er es aber gesagt! Ob der Leser weiss, welche dunklen Zeiten er meint? Bestimmt, schliesslich ist der Leser nicht jene unterbelichtete Tresenkraft, als dem man ihn sich gern vorstellt. Womöglich hat er sogar schon Literatur im Original gelesen! Stefan Zweifel grunzte zufrieden. Er hatte wieder einmal Dreck in die Zeitung gebracht, und niemand hatte ihn gemahnt, die Schuhe abzuwischen.   

http://www.dasmagazin.ch/index.php/Der_Kritiker:_Littellaturstreit

Dienstag, 19. Februar 2008

Hugo Stamm schreibt über die Pro7-Zaubershow

Hugo Stamm, der grosse Sektenexperte und letzte Entzauberer der Welt, ärgerte sich wieder einmal über alle Massen. Was sich die Leute nicht alles auftischen lassen! In dieser Magieshow bei Pro7 zum Beispiel. Da heisst ein herkömmlicher Scharlatan seine Assistentin, aus einer Kiste das fehlende Teil eines Mona-Liste-Puzzles herauszuziehen. Die Zuschauer würde keinesfalls ein metaphysisches Gruseln befallen, schnaubte Hugo Stamm, wüssten sie, was er wusste: Den Trick kann man sich für 499.95 Euro bei Magicshop.com bestellen. Denn in der Box befindet sich nur dieses eine Puzzleteil in hundertfacher Ausführung! Ein Schwindler, und dann auch noch am Fernsehen. 
Aber die Leute, das wusste Hugo Stamm nur zu gut, glauben jeden Blödsinn. Das musste aufhören, also journalistisch aufgedeckt werden. Aufklärung! Hugo Stamm, der grosse Sektenexperte und letzte Entzauberer der Welt, lehnte sich zufrieden in seinen Bürosessel zurück und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Transparenz herstellen, das konnte er gut. Er begann zu schreiben, doch dann befiel ihm auf einmal eine grosse Müdigkeit. Ein Trunk wäre jetzt gut, dachte er sich. Er nahm seine Bürotasse und schlurfte in die Teeküche der Redaktion. Hugo Stamm öffnete den Mixer und gab zwei Froschbeine, einen Schrumpfkopf und zwei Tropfen Katzenblut hinein. Er liess die Mischung lange quirlen und trank das Elixier in einem Schluck. Nun ging es dem grossen Sektenexperten besser. 

An seinem Schreibtisch ordnete er seine Gedanken, ehe er das Telefon abnahm und sich per Telefon Karten legen liess. Das ging auf die Redaktionsspesen und war auch sonst eine beruhigende Abwechslung. Zwischendurch schüttelte er seine Hellseherkugel und sah in seine rosige Zukunft. Den Entzauberern gehört die Zukunft, dachte Hugo Stamm, wem denn sonst. Plötzlich war er wieder voller Tatendrang. Er hängte den Hörer auf und mischte seine Tarotkarten. Ohne zu schauen zog er eine Karte. Es war eine finster dreinblickende Rittergestalt, deren Visage Hugo Stamm ein bisschen an Immanuel Kant erinnerte. Kant, der Aufklärer! Das war auch die Mission von Hugo Stamm, dem grossen Entzauberer. Er wollte die Fernsehzuschauer aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit herausführen. Mona Lisa? Magicshop!

Als sich Hugo Stamm zum dritten Mal überlegte, ob er statt «übersinnlich» doch eher «paranormal» schreiben sollte, zerfielen die Wände seine Büros und gaben für einen ganz kurzen Moment die Sicht auf das Universum frei. 

Etwas geschah. 

Hugo Stamm, der grosse Entzauberer, konnte es sich nicht erklären. Für den Moment einer Sekunde war es ihm, als sei er aus der Welt geschleudert worden und hätte von einem Ort auf die Menschen geblickt, an dem sich alle Widersprüche auflösen. Da war es, ganz kurz: Er hatte alles gewusst, was es zu wissen gab. Er schwebte über den Dingen, schien ein Auserwählter zu sein unter Millionen. War es ein Beben im Raum, war es eine Falte in der Zeit? Hugo Stamm befiel ein metaphysischer Schreck. Er zitterte am ganzen Leib und starrte auf die Wand. Endlos lange sass Hugo Stamm, der grosse Sektenexperte und letzte Entzauberer der Welt, so da. Dann gab er bei «Google» den Suchbegriff «Angst» ein. Das hätte er jetzt nicht tun sollen. 

Montag, 18. Februar 2008

Manfred Papst schreibt über den Brockhaus

Manfred Papst streichelte sich den Bauch und stöhnte. Ausgerechnet Hintergrund & Meinungen wollte etwas zum Brockhaus von ihm. Es kam ihm immer vor wie Fahnenflucht, wenn er sein angestammtes Kulturreservat verliess und das Gras über den Zaun fressen ging. Sollen die doch selbst was zum Brockhaus schreiben! Aber gut, 4000 Zeichen, das mochte es leiden; längere Texte sind ja leicht, da lässt es sich drauflos schreiben und die Korrekturen fallen weg, denn Korrekturen bedeuten Kürzungen, und Kürzungen bekommen einem langen Text überhaupt nicht. 
 
Manfred Papst schlenderte vom Schreibtisch zum Gestell mit den Rezensionsexemplaren und stierte ins Regal. Da waren viele schreckliche Bücher, aber ein Brockhaus war nicht darunter. Das wäre ja schön gewesen, dachte Manfred Papst plötzlich vergnügt, wenn er die letzte, kunstvoll eingebundene Ausgabe des Brockhaus als Rezensionsexemplar bestellte hätte: die ganzen Regalmeter, das gesamte Totschlagwissen für lau. Er musste lächeln. Lexikonkritik, das hätte er mal machen müssen. Doch einen papiernen Brockhaus hatte sich Manfred Papst schon länger nicht mehr gekauft. Kulturpessimismus war also nicht angebracht, wenn der Brockhaus ins Internet wandert und sich dort gratis feilbietet. 

Manfred Papst wanderte ebenfalls zurück ans Internet und klickte eine halbe Stunde auf unsinnige Querverweise, ehe ihm die «Süddeutsche» in den Sinn kam. Die «Süddeutsche» las er gern. Schon nur dieser viele Platz für die Kultur, und dann eine tägliche Medien-Seite! Manfred Papst putzte sich die Brille und stellte sich vor, eine Medien-Seite in der «NZZ am Sonntag» zu haben. Einer von den Jungen könnte das machen, solange es, Gott bewahre, nicht diese Fiona Hefti ist. Dann dämmerte es ihm: Hatte Manfred Papst in der «Süddeutschen» nicht etwas über den Brockhaus gelesen?

Er wühlte in einem Papierstoss neben dem Bilschirm und zog das Feuilleton hervor. «Das Wissen wirft keine Zeitfalten mehr». Welch schöner Titel! In München schreibt man die schöneren Titel, dachte Manfred Papst beglückt. In der Schweiz dagegen gelang niemandem solche Poesie. Hier schrieben öde Journalisten öde Doppelstöcker, die wie ein riesenhafter Meteorit über den Text hinabfallen und alles zerdrücken. Mit Grauen dachte Manfred Papst an den «Tages-Anzeiger» und dessen mehrstöckige Praxisausbildungstitel. Ihm wurde ein bisschen schlecht. 

Stirnrunzelnd las Manfred Papst den Kommentar von Andrian Kreye zum digitalen Brockhaus. Dieser Andrian Kreye, der schreibt immer so kompliziert, ärgerte sich Manfred Papst. Aber interessant! Vor allem der Abschnitt über den Parasitismus im Internet, über die Entwertung der Inhalte, wenn sie immer weiter geklont werden, das war sehr brauchbar. Gäbe es doch in Zürich auch solche klugen Köpfe! Behutsam legte er das Feuilleton zurück auf die Beige und begann zu schreiben. Den Gedanken mit dem Parasitismus wollte er einbringen. Das war zwar auch irgendwie Ideenklau, selbst parasitär, ebenfalls eine Art von Entwertung der Inhalte. Aber dies war ja nicht das Internet, sondern eine richtige Zeitung. Manfred Papst gluckste und schrieb immer schneller.