Montag, 21. Februar 2011

Martin Meyer schreibt über die Revolution in Ägypten

Martin Meyer war ungeduldig. Nun hatten schon Reihen von Experten ihr Wissen über den Aufstand in Ägypten ausgeschüttet, jetzt war doch einmal auch er dran. Schliesslich war er Chef des Feuilletons der NZZ! Und zur Revolution hatte sich einiges angestaut in seinem Hirn, das unbedingt raus musste. Genauso wie die Menschen in Ägypten auf den Tahrir-Platz!
«Studenten drängten sich mit Arbeitern, Ärzte und Juristen schlossen auf zur Beamtenschaft, junge Frauen demonstrierten neben alten Bauern, und sie alle, die dabei Leib und Leben riskierten, bildeten jene Kohärenz, die erst wirkungsvoll dem Regime von Mubarak den Garaus machte.»
Das ging schon mal gut los. Kohärenz war toll, aber auch Garaus. Später: 
«Das Subjekt der Revolution war die Revolution selber, als Summe des Volkswillens und als Kritik am Bestehenden.»
Martin Meyer putzte erstmal seine Brille. Hatte er jetzt tatsächlich gerade geschrieben, dass das Subjekt der Revolution die Revolution selber war? Ha! Aber stimmte es nicht? Kommt denn die Revolution nicht daher und sagt: Ich bin die Revolution? Bestimmt doch! Und zwar unabhängig davon, dass das Subjekt der Revolution freilich die Arbeiterklasse ist. DAS SUBJEKT DER REVOLUTION IST DIE REVOLUTION. Martin Meyer war stolz auf sich. Mit seiner Tautologie hatte er auf theoretischer Ebene gerade viele Regalmeter Geschichtsphilosophie erledigt. Soll ihm nur keiner den Satz anstreichen! Dem Chef des Feuilletons der NZZ!
«Die Geschichte wiederholt sich, und sie wiederholt sich nicht.»
 Das war nun einfach wahr und musste mal gesagt sein. Wenn sich die Geschichte wiederholt, kann man im Nachhinein sagen, dass sie sich wiederholt hat. Wiederholt sie sich dagegen nicht, lässt sich immerhin erkennen, dass sie sich im Gegensatz zu der Erwartung, Geschichte würde sich normalerweise wiederholen, eben nicht wiederholt hat. Martin Meyer schaute aus dem Fenster und wurde ein bisschen melancholisch ob all der Erkenntnis. 
«Die bisher aktuellen Lehren aus den Ereignissen in Kairo lauten: Erstens, indem die Ägypter scheinbar aus dem Nichts und ohne die Regie durch Anführer der Revolution zusammenkamen, konfigurierten sie sich zu einer Spontanmasse, deren Identität die individuellen Profile so effektiv überspielte, dass die Parole «Wir sind das Volk» ohne Einschränkung sowohl in der Innen- wie in der globalisierten Aussenwahrnehmung ihre Geltung beanspruchte. Die Nähe, die als Wir-Gefühl entstand, wurde dadurch politisch.» 
Jetzt kams ganz dicke. Es musste ja auch einmal einer drauf kommen, dass eine Revolution politisch wurde, und in diesem Fall wurde sie es durch eine Nähe, die als Wir-Gefühl entstand. Andere Revolutionen etwa entstanden aus einer Entfernung, die als Die-Da-Drüben-Gefühl wirklich wurden, indem etwa die einen sagten, mit denen dort drüben wollen wir nichts zu tun haben, und in deren Nähe wollen wir schon gar nicht sein. Martin Meyer lächelte glückselig. Es braucht eben für die Nähe vor Ort die Analyse aus der Ferne eines Redaktionsbüros!
«Diesem Aufstand lag zugleich eine Mobilisierung zugrunde, die ihre Energien aus Quellen zog, die keinem atavistischen Triebimpuls entsprachen, sondern ganz im Gegenteil einem reflektierten und planenden Bewusstsein sich verdankten.»
Jetzt wurde es schwieriger, musste Martin Meyer doch mit diesem Facebook sich auseinandersetzen, das offenbar ein Wir-Gefühl auslöste in einer Revolution, die von sich selber sagte: Ich mag mich! Aber das konnte er sich ja erst noch überlegen, wichtiger war zuerst noch, das Reflexivpronomen möglichst weit nach hinten zu legen. Soll ihm keiner sagen, er habe die Kritische Theorie nicht gelesen!
«Die Organisatoren – so ihr eigenes Bekenntnis – entdeckten sich dabei selbst»
Die Organisatoren entdecken sich selbst. Martin Meyer musste plötzlich laut lachen ob seiner Chuzpe. Richtig wäre natürlich, dass sie einander entdecken, doch wenn sie sich selbst entdeckten, werden sie sich ihrer wahrscheinlich sogar noch bewusst, und was will man mehr als ein Bewusstsein bei einer Revolution! Martin Meyer holte einen Kamillentee
«Facebook avancierte zur Metapher für die Delegation von Legitimität auf die Screens.»
Jetzt stellte sich zuallererst die Frage, ob es noch ein Substantiv mehr leiden könnte. Vielleicht Demokratisierung? Facebook avancierte zur Metapher für die Demokratisierung durch Delegation von Legitimität auf die Screens? Das hatte schon was für sich! Aber schon so delegierte Facebook die Legitimität auf die Screens, wo Facebook bereits herkam, und alles war auch noch eine Metapher! Die Schlange, die die Katze gefressen hat, die sich in den Schwanz gebissen hatte, vergiftete sich selber. Martin Meyer erhielt einen geistigen Handschlag von sich selber. 
«Doch in den Palästen von Libyen über Algerien und Bahrain bis nach Iran lauert die Furcht. Schon jetzt hat der Dominoeffekt auf leisen Sohlen zugeschlagen.»
Hihi, lachte Martin Meyer. Ein Dominoeffekt auf leisen Sohlen! Wie kam er nur immer auf solche Wendungen? Solches fiel eben dem Chef des Feuilletons der NZZ ein, und niemand anderem sonst!
«What Egypt did will be the form that will push the world.» Das war letztlich und in ehrwürdiger Tradition geschichtsphilosophisch gedacht, dass nichts und niemand dem Fortschritt entrinne. Hegels Diktum, dass die Masse mit der Französischen Revolution ein Bewusstsein eingesetzt bekommen habe, lieferte gleichsam die Vorlage. Derweil wuchert zugleich die Hypothek der politischen Theologie, wie sie der Islam beansprucht, in den Köpfen derer, die Demokratie noch lange nicht mit den Rechten des Individuums im freiheitlichen Rechtsstaat identifizieren. Überdies gilt für jede revolutionäre Volksbewegung, dass sie ihren politischen Ort erst da gefunden hat, wo Repräsentation zustande gekommen ist. Dem alten Europa eröffneten sich dafür zweihundert Jahre. Das Auf und Ab ist bekannt.»
Martin Meyer lehnte sich zurück. Das Auf und Ab war ja nun wirklich allzu gut bekannt, das musste er verschworen mit sich selbst zugestehen.  Wer es weiss, der wird es wissen, denn manchmal ging es auf und zuweilen auch wieder ab, aber auf und ab ging es immer. Es war ja schon fast so, dass sich die Geschichte wiederholt, solange sie sich nicht wiederholt. Ausserdem hatte er jetzt auch noch den Hegel drin. Und mit dem Hegel hatte er die Vernunft und den Fortschritt, und mit Fortschritt hatte er den Weg hin zum freiheitlichen Rechtsstaat, in dem es jedem erlaubt ist, drauflos zu denken, wie man will, und alles auch noch aufzuschreiben, solange nicht der Islam plötzlich zu wuchern anfängt und den ganzen schönen Fortschritt zerstört. Martin Meyer machte einen Purzelbaum rückwärts im Büro. Hoffentlich hatte das jetzt keiner gesehen. 

http://www.nzz.ch/nachrichten/kultur/aktuell/die_masse_bricht_die_macht_1.9598296.html

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